
Trauer, Eintrag 2: Der schwerste Gang
- Heike Eichhorn

- 29. Apr. 2023
- 2 Min. Lesezeit
Aktualisiert: 1. Okt.
Teil II
Morgen findet die Beerdigung statt.
Die Erinnerungen an die letzten Stunden mit meiner Mutter sind schmerzlich – und zugleich von Dankbarkeit und Demut erfüllt. Es war das erste Mal, dass ich einen Sterbeprozess miterlebt habe. Und ich habe gelernt: Der Tod ist kein fernes, schwer fassbares „Anderswo“, kein unerreichbares Land. Er ist hier – alle Tage unseres Lebens.
Wenn man sich dem Thema Tod wirklich stellt und vielleicht sogar einen Sterbenden begleiten darf, kann das tiefes Mitgefühl wecken. Wenn wir begreifen, dass jedes Lebewesen sterben wird – wir alle, ohne Ausnahme –, wie könnten wir dann noch hassen? Wie könnten wir anderen etwas Böses wünschen? Was für eine Verschwendung wertvoller Lebenszeit.
Ich weiß nicht, wohin all das führt – mein Leben, das Leben derer, die ich liebe, das Leben dieser Welt. Doch dieser gegenwärtige Moment zeigt mir: Es geht darum, mich mit dem Tod anzufreunden – für mich selbst und für andere.
Zurzeit lese ich Das tibetische Buch vom Leben und vom Sterben von Sogyal Rinpoche – ein Schatz voller Einsichten und Weisheit. In einem Kapitel heißt es:
„Trauer ist eine Wunde, die der Zuwendung bedarf, um heilen zu können. Die Trauer zu durchleben und abzuschließen bedeutet, sich den Gefühlen offen und ehrlich zu stellen, ihnen voll und ganz Ausdruck zu geben, sie unverkrampft herauszulassen und zu akzeptieren – und zwar so lange, bis unsere Wunden verheilen. Wir fürchten, dass die Trauer uns überwältigen wird, sobald wir sie zulassen. In Wahrheit aber löst sie sich auf, wenn sie angenommen und durchlebt wird. Trauer, die keinen Ausdruck finden darf, hält hingegen sehr lange.“
Morgen findet die Beerdigung statt. Ich weiß: es wird nicht leicht. Vielleicht wird es sogar der schwerste Gang meines bisherigen Lebens. Der Schmerz könnte mich überwältigen – und doch ist das in Ordnung. Ich lasse es zu.

Foto: meine Mutter, 15 Jahre jung




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